Welche Art von Kunst entsteht in der Betrachtung von digitaler und digitalisierter Kunst im Unterschied zu analogen Kunstwerken? Verändert Digitalität, was Kunst ist, und wie wir sie bewerten?

Von Cathren Landsgesell

Die Wortschöpfung „postdigital“ mag dreißig Jahre alt und die Computer, so wie Nicholas Negroponte es 1995 vermutete, „in den Dingen verschwunden“ sein, dennoch ist das postdigitale Zeitalter scheinbar noch nicht ganz da oder jedenfalls nicht so, dass die Unterscheidung digital/analog verschwunden wäre. Was dies für die Wahrnehmung von Kunst heißt, untersucht die Kunsthistorikerin Hanna Brinkmann derzeit gemeinsam mit Forschungspartner_innen in einem dreijährigen Forschungsprojekt: „Gerade, weil Digitalisate, also digitalisierte Versionen von analogen Kunstwerken, aufgrund der technologischen Entwicklung um so vieles besser geworden sind, stellt sich die Frage, warum die Wahrnehmung trotzdem noch so anders ist, und was genau eigentlich anders ist“, sagt sie.

Digitalisierte Objekte sind in Museen und in der Kunstvermittlung nichts Neues. So ist es etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts üblich, Sammlungsobjekte zu fotografieren, unter anderem aus konservatorischen Gründen. Diese Fotos gehörten zu den ersten musealen Artefakten, die später auch digitalisiert wurden. Heute ist es möglich, mittels Videos und Scanning digitale 3D-Reproduktionen anzufertigen; virtuelle Kopien und „Abbilder“ sowie auch Augmented Reality sind ein selbstverständlicher Teil von Sammlung, Kunsterfahrung und -vermittlung. „Wir wollen empirisch untersuchen, ob sich das Kunsterleben unterscheidet, wenn das Medium gewechselt wird, vom Original über hochauflösende digitale Abbildungen bis zur Einbettung in eine Virtual Reality“, so Brinkmann. Im Fokus des durch den Wissenschaftsfonds FWF geförderten Grundlagenforschungsprojekts „Art Experience in the (Post-) Digital Age {original | digital | virtual}“, kurz OrDiV, steht die Wahrnehmung von Malerei durch das Publikum des Belvedere in Wien.

Wertigkeit

Bei digitaler Kunst verschwimme die Unterscheidung zwischen den Medien und ebenso die saubere Trennung zwischen Original und Kopie, sagt Gerfried Stocker, Leiter des Ars Electronica Center in Linz: „Es ist immer interessant, darauf zu achten, welche Begriffe wir wählen, um den Unterschied zwischen digital und real zu erklären oder zu beschreiben. Das Digitale trägt den Stempel des Unechten und damit auch Unwertigen, was im Hinblick auf den Kunstmarkt nachvollziehbar ist, denn die Einzigartigkeit eines Objekts macht es erst für diesen wertvoll. Digitalkunst besteht jedoch aus Information, sodass sich die Kategorien ‚Original‘ oder ‚echt‘ aufheben. Digitale Kunst ist immer schon eine Kopie, – eine Kopie ohne Original. In der digitalen Kunst kann ‚Original‘ daher schlichtweg keine Kategorie sein.“

Das Museum für Angewandte Kunst Wien, das MAK, nimmt Objekte in seine Sammlungen auf, die sich mit Digitalität als Thema beschäftigen oder tatsächlich „born-digital“-Objekte sind – eine KI-generierte Schriftart ebenso wie softwarebasierte Installationen. „Was uns interessiert, sind die Wechselwirkungen von Technologie, Design und Kultur und die kritische Auseinandersetzung damit. Das kann eine Videoarbeit, eine Skulptur, ein Text oder ein Datensatz auf einem USB-Stick sein“, sagt Marlies Wirth, Leiterin der Sammlung Design und Kuratorin für Digitale Kultur. Eines der ersten digitalen Objekte der Sammlung Design ist ein Bildschirmschoner des Künstlers Harm van den Dorpel (Event Listeners), also Software, die algorithmische Zeichnungen erzeugt – das Objekt wurde vom MAK 2015 mit Bitcoin angekauft.

Materialität

Bei aller Virtualität sei digitale Kunst materiell, sagt Wirth: „Es braucht immer ein Speicher- und Abspielmedium, die Rezeption lässt sich also nicht von einer räumlichen Verankerung trennen: Wenn wir digitale oder immersive Kunstwerke zeigen, bleibt dies eine räumliche Erfahrung, die mit einem Körper und seinen Sinnen erlebt wird. Es ist nicht dasselbe, sich ein Video auf Youtube anzusehen oder es in einer Ausstellung zu erleben, ein Museum ist auch ein sozialer Ort.“

Neben dem Original und dem hochauflösenden Digitalisat ist die Kopie der räumlichen Erfahrung „Ausstellung“ die dritte Vergleichsbedingung, unter der Brinkmann die Wahrnehmung von Kunst untersuchen wird. Zu diesem Zweck entsteht am Department Medien und Digitale Technologien der FH St. Pölten gerade ein virtueller Zwilling, der die Bilder und ihre Ausstellungssituation möglichst exakt nachbildet, um den Effekten virtueller Realität auf das Kunsterleben auf die Spur zu kommen. „Die Besucher_innen haben in der virtuellen Realität die Möglichkeit, ein Bild immersiv zu erleben, sie können auch die Ausstellungssituation verändern, umhergehen, verschiedene Perspektiven einnehmen usw.“, erklärt Brinkmann. Sie erwartet, dass das Verhalten der Besucher_innen Aufschluss über die Aneignungsweisen digitalisierter Malerei gibt.

Hanna Brinkmann

„Die Aura entsteht erst in der Blickbeziehung, sie ist nichts, was dem Kunstwerk eigen ist, auch nicht bei Werken der Malerei.“

Hanna Brinkmann

Welchen Status haben neben „Originalen“ und Digitalkunst solche Digitalisate wie der digitale Zwilling? Ist das ebenfalls Kunst? „Ich würde nicht sagen, dass digitalisierte Museumsobjekte ein eigenes Werk sind“, meint Wirth. „Es kommt allerdings darauf an, warum man digitalisiert.“ Nachdem Museen dazu angehalten sind, Bestände zu digitalisieren und diese Digitalisierung nicht dezidiert künstlerischen Zwecken dient, würde eine großzügige Auslegung wohl zu einer Inflation des Kunstbegriffs führen. „Wenn die Digitalisate künstlerisch weiterverarbeitet bzw. -verwendet werden, bekommt das Objekt einen anderen Status.“ Dies ist in der Ausstellung „Troika. Terminal Beach“ der Fall: Die Skulpturenserie „Grenzgänger“ (2024) ist aus Fragmenten digitaler Zwillinge von historischen Objekten entstanden, die zu neuen Figuren kombiniert und anschließend 3D-gedruckt wurden.

Doch die Grenzen sind uneindeutig. Etwa wenn die Künstlerin Morehshin Allahyari Statuen, Fragmente von Gebäuden und Kulturstätten, die durch den IS 2015 in Syrien zerstört wurden, als 3D-Druck rekonstruiert. In die von ihr angefertigten Kopien in 3D sind USB-Sticks mit Karten, Bildern und anderen Dateien eingegossen, die die Stätten und Objekte erklären und die weitere Reproduktion mittels 3D-Druck ermöglichen. Um an diese digitalen Daten zu kommen, müssten die physischen Objekte zerstört werden. Die Arbeiten Allahyaris wurden in der MAK-Ausstellung „/imagine: A Journey into The New Virtual“ 2023 gezeigt: „Die Originale, auf die Allahyari Bezug nimmt, gibt es nicht mehr. Die Skulpturen mit den eingebetteten Memory Cards treten an ihre Stelle und werden damit zu einem neuen Original.“, so Wirth.

Abschied vom „Werk“

Digitalkunst und Medienkunst tragen nicht nur ihre Reproduzierbarkeit mit sich, sie sind auch schlecht eingrenzbar.  „Der Werkcharakter ist fast nicht mehr darauf anzuwenden“ sagt Stocker. „Wir sprechen von künstlerischen Resultaten, von Prozessen, von Events. Während das Werk überall dort noch existiert, wo wir es mit analogen Dingen zu tun haben, ist in der digitalen Welt der Werkbegriff und die damit verbundenen Wertbegriffe eigentlich nicht mehr wirklich zulässig. Aber das Digitale hat eine intensive alltägliche Präsenz.“ Dieser alltäglichen Präsenz zum Trotz seien Menschen eigentlich nicht in der Lage, die Realität des Digitalen zu erfassen. „Ich denke, dass wir dazu evolutionär nicht in der Lage sind. Wir haben kulturell noch nicht gelernt, dass Informationen auch eine Materialität zukommt“, so Stocker.

Gerfried Stocker

„In der digitalen Kunst kann ‚Original‘ schlichtweg keine Kategorie sein.“

Gerfried Stocker

An die Stelle des Werks tritt die Künstlerin oder der Künstler, die charismatisch für die Einzigartigkeit und Authentizität eintreten, die das digitale Artefakt selbst nicht hat. Stocker: „Dies ermöglicht es uns als Konsumierende von Kunst, diese wertzuschätzen als Kunst.“

Die Differenz zwischen digitaler und analoger Kunst sei aufschlussreich, zeige sie doch, dass der Wert von Kunst oder auch die Aura eines Werks im Sinne Walter Benjamins nicht durch seine Reproduzierbarkeit in Frage gestellt werde. „Die Aura entsteht erst in der Blickbeziehung, sie ist nichts, was dem Kunstwerk eigen ist, auch nicht bei Werken der Malerei“, so Brinkmann.

Wenn der oder die Betrachter_in entscheidet, ob es Kunst ist oder keine, kann vielleicht die Sammlungspraxis zeigen, dass kategoriale Unterschiede nur begrenzt hilfreich sind. Marlies Wirth: „Als Bugholz und maschinell gefertigte Thonet-Stühle die Tischlerarbeiten ablösten, war deren Status als museales Objekt erst auch fraglich. Das erste Foto, das in eine Museumssammlung kam, war umstritten, weil ein Foto keine Malerei ist. Nun gibt es eben auch digital produzierte Arbeiten anstelle von analogen. Neue Technologien wurden und werden von Avantgarden genutzt und verändern Produktions- und Sichtweisen auf Kunst und Kultur.“


HANNA BRINKMANN
Dr.in Hanna Brinkmann arbeitet als Senior Researcher am Zentrum für Kulturen und Technologien des Sammelns am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der -Universität für Weiterbildung Krems. Sie forscht inter- und transdisziplinär zu den Themen visuelle Kultur, Kunsterfahrung und Museologie.

GERFRIED STOCKER
Gerfried Stocker ist Medienkünstler, Ingenieur der Nachrichtentechnik und seit 1995 künstlerischer Leiter und Geschäftsführer von Ars Electronica, wo er mit einem Team von Künstler_innen und Techniker_innen deren Ausstellungsstrategien entwickelte und die Forschungs- und Entwicklungsabteilung Ars Electronica Futurelab aufbaute.

MARLIES WIRTH
Marlies Wirth ist Kuratorin Digitale Kultur und Leitung der Sammlung Design des MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien. Ihre Forschung konzentriert sich auf neue Narrative des Anthropozäns an der Schnittstelle von Technologie und Ökologie. Sie kuratiert Ausstellungen und Programme in den Bereichen Kunst, Design und Architektur.

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