Archive bewahren die Vergangenheit auf und wirken in die Gegenwart. Doch was in Zukunft davon noch von Bedeutung sein wird, stellt Archive vor knifflige Fragen.

Von Milena Österreicher

Was landet im Archiv? Meist sind es sogenannte Nebenprodukte menschlicher Tätigkeit: Briefkorrespondenzen, Karten, Fotos, Pläne oder Filmaufnahmen, die Einblicke in das Leben und Handeln von bedeutenden Personen und Organisationen bieten. Archive sind so etwas wie das Gedächtnis einer Gesellschaft, eines Landes oder auch einer Kunstepoche. Schätzungen zufolge werden etwa zwei bis fünf Prozent der Dokumente dauerhaft in Nationalarchiven aufbewahrt. Damit prägen diese wenigen Prozent entscheidend mit, wie wir die Vergangenheit sehen und wie wir darauf aufbauen.

Was repräsentiert am besten unsere Zeit? Und wie gut ist das Material erhalten? – Das sind zwei Fragen, die sich Helmut Neundlinger bei potenziellem Archivmaterial stellt. Neundlinger leitet das Archiv der Zeitgenossen, kurz AdZ in Krems. Es wurde 2010 gegründet und beherbergt Vor- sowie Nachlässe wichtiger niederösterreichischer Künstler_innen. 2022 wurde das Archiv um die Literatursammlung des Landes Niederösterreichs erweitert und wird seither als Kooperation zwischen dem Bundesland und der Fakultät für Bildung, Kunst und Architektur der Universität für Weiterbildung Krems geführt.

Der Schwerpunkt des AdZ liegt auf Vorlässen, also Beständen, die noch zu Lebzeiten des_der Künstler_in übergeben werden. Das habe den großen Vorteil, in einen aktiven Forschungsdialog mit den Künstler_innen zu treten, so Helmut Neundlinger. Bei der Frage, was von einem Bestand alles ins Archiv aufgenommen wird, orientiert sich das AdZ an der sogenannten RNAB (Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken) – ein Standard im deutschsprachigen Raum, vor allem für Literaturarchive, der von einem Zusammenschluss von Organisationen und Institutionen der Kultur und Wissenschaft im DACH-Raum entwickelt wurde.

Wiederentdeckungen

Dennoch stelle sich immer die Frage nach der Bedeutung in der Zukunft, denn schon alleine aus Platzgründen könne nicht alles aufbewahrt werden, was eine Person angesammelt habe. „Es ist immer eine Wette, denn von der Gegenwart aus ist es nicht so leicht zu bestimmen, was unsere Zeit in 40, 50 Jahren am besten widerspiegelt“, sagt Neundlinger. Er verweist auf Beispiele der Literaturgeschichte, wo manche Autor_innen zu Lebzeiten viel rezipiert wurden und man sich später frage, warum sie damals überhaupt so in Mode waren. Oder Autor_innen, die erst später (wieder) entdeckt wurden, wenn Materialien bei Recherchen in Archiven oder bei Familienangehörigen auftauchten.

Martina Griesser-Stermscheg

„Alle sprechen von Diversität, aber das muss sich auch in den Sammlungen und Archiven spiegeln.“

Martina Griesser-Stermscheg

So etwa der Fall der österreichischen Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin Maria Lazar, die von 1895 bis 1948 lebte. Ihr Nachlass wurde erst vor ein paar Jahren im britischen Nottingham gefunden und 2022 an die Exilbibliothek des Wiener Literaturhauses übergeben. Es folgten bisher unveröffentlichte Romane. Als jüdische Autorin wurde Lazars Werk zu Lebzeiten kaum veröffentlicht. Sie ging 1933 ins dänische Exil.

„Sie hatte aufgrund der Vertreibungsgeschichte in der NS-Zeit keinen Ort mehr in der deutschsprachigen Rezeption und es ist irgendwann quasi vergessen worden, dass es sie gab“, erzählt Helmut Neundlinger. Durch den Nachlass-Fund wurde sie wiederentdeckt und man stellte fest, dass sie eigentlich in den Kanon ihrer Zeitgenossen wie Joseph Roth, Stefan Zweig oder Ödön von Horváth gehört. „Hier sehen wir die Genderkomponente, dass viele Frauen in Archiven fehlen, auch wenn sie für die Zukunft bedeutend sind“, sagt Neundlinger, „aber auch den Aspekt der Vertreibung und Emigration, die viele hat unsichtbar werden lassen“.

Fehlende Frauen

Auch im Archiv der Zeitgenossen haben Frauen Eingang gefunden, etwa der Vorlass der slowakisch-österreichischen Schriftstellerin Zdenka Becker oder jener der Malerin, Publizistin, Kunstkritikerin, Kuratorin und Demokratie-Aktivistin Helga Köcher. „Wir bemühen uns jetzt aktiv um mehr Vorlässe von Frauen“, sagt Helmut Neundlinger, der Ende 2021 die AdZ-Leitung übernahm. Doch die bisherige Erfahrung zeige: Einige Frauen – vor allem jene der älteren Generation – würden noch dazu neigen, sich selbst und ihr Schaffen nicht so wichtig zu nehmen und dementsprechend auch das Material nicht aufbewahrt zu haben. „Das passiert bei männlichen Künstlern seltener, die sind aufgrund ihrer Sozialisation da meist selbstbewusster bzw. sind da beispielsweise ihre Partnerinnen sehr sorgfältige Bestandsverwalterinnen“, sagt Neundlinger.

Ähnliches weiß auch Martina Griesser-Stermscheg zu berichten. Die Museologin leitet das Forschungsinstitut am Technischen Museum in Wien.Wir haben vor zwei Jahren begonnen, aktiv bedeutende Frauen aus der Technik und Naturwissenschaft in Österreich anzusprechen und um ihren Vorlass gebeten, aber im Vergleich dazu, was wir an männlichen Biografien haben, ist es leider immer noch ein Tropfen auf dem heißen Stein“, berichtet sie.

Helmut Neundlinger

„Es ist immer eine Wette, denn von der Gegenwart aus ist es nicht so leicht zu bestimmen, was unsere Zeit in 40, 50 Jahren am besten widerspiegelt.“

Helmut Neundlinger

Im Technischen Museums gibt es eine eigene Archiv- und Sammlungsstrategie anhand derer alle fünf Jahre der Bestand überprüft wird. Zunächst erfolgt eine qualitative Bewertung, etwa wie wichtig der historische Bestand aus heutiger Sicht ist, ob die Sammlung abgeschlossen ist oder es sich lohnt, ihn weiter zu sammeln. Dazu zählt auch eine sogenannte Umfeldanalyse, bei der geprüft wird, ob der Bestand regional, national oder international einzigartig ist. „Wir haben zum Beispiel eine schöne Feuerschutzsammlung, allerdings hat sich das Feuerwehrmuseum der Stadt Wien auf dieses Thema spezialisiert und hier mittlerweile die besseren Bestände“, erklärt Martina Griesser-Stermscheg. Das Technische Museum Wien verfüge hingegen als einziges Archiv über mehrsprachige Kataloge der Wiener Weltausstellung 1873, was sie somit auch besonders wertvoll mache.

Nachholbedarf sieht Griesser-Stermscheg in fehlenden Archivalien aus nichteuropäischer Sichtweise. Ein aktuelles Forschungsprojekt am Technischen Museum widmet sich kolonialen Infrastruktur- und Verkehrsprojekten, wie dem Suezkanal in Ägypten oder der Otavibahn in Namibia, bei denen österreichische Beteiligungen bei Planung und Bau oder aber durch direkte oder indirekte Verwertungsinteressen nachweisbar sind. Doch das meiste Material, über das das Museum verfügt, ist aus österreichischer Perspektive.

„Alle sprechen von Diversität, aber das muss sich auch in den Sammlungen und Archiven spiegeln“, sagt Martina Griesser-Stermscheg. Sie vermutet ein mangelndes Vertrauen in öffentliche Institutionen, um wirklich Bestände geschenkt oder zum Kauf angeboten zu bekommen, die einer nichteuropäischen Perspektive entstammen. „Die öffentlichen Institutionen könnten aber im Vergleich zu kleineren privaten Initiativen sicherstellen, dass auch diese Perspektiven langfristig bewahrt werden“, so Griesser-Stermscheg.

Archiv-Gewalt

Archive spiegeln also immer wider, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als wichtig erachtet wurde und wer es ins Archiv geschafft hat. Sie sind selten neutrale Speicher. Durch die bewusste Entscheidung, was sichtbar gemacht wird und was unsichtbar bleibt, entsteht dem deutschen Kunstkritiker, Philosophen und Medientheoretiker Knut Ebeling zufolge eine spezifische Archiv-Gewalt. „Der Ausschluss einer Welt ist immer ein Akt der Gewalt“, sagt er. Der Anschein, dass nur interne Regeln den Zugang zu Archiven regeln würden, sei schon immer eine Illusion gewesen. Auch dass sich Archive gegenwärtig mehr öffnen und transparenter werden, sei nicht unbedingt institutionellen Entscheidungen zu verdanken, sondern eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Ebeling befürchtet, dass die Beurteilung von Archiveingängen in Zukunft künstlicher Intelligenz überlassen wird. Das sei bedenklich, könne doch die algorithmische Intelligenz noch schlechter beurteilen, was für die Zukunft Bedeutung habe. So wird die Zukunftsfrage weiterhin eine entscheidende für Archive und ihren Umgang mit einem Bestand sein. Eine Frage, die immer und immer wieder neu verhandelt werden muss.


KNUT EBELING
Prof. Dr. Knut Ebeling ist Philosoph, Medientheoretiker und Kunstkritiker. Seit 2009 ist er Inhaber einer Professur für Medientheorie und Ästhetik im Fachgebiet Theorie und Geschichte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.

MARTINA GRIESSER-STERMSCHEG
Priv.-Doz. Mag.a Dr.in Martina Griesser-Stermscheg ist Museologin, Kuratorin und Restauratorin. Von 2013 bis 2021 war sie Sammlungsleiterin am Technischen Museum Wien (TMW). Sie leitet nun das Forschungsinstitut am TMW und ist Co-Direktorin des /ecm-Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien.

HELMUT NEUNDLINGER
Dr. Helmut Neundlinger ist Germanist, Publizist, Autor und Leiter des Archivs der Zeitgenossen am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems.

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