In vielen Ländern ist die Demokratie auf dem Rückzug. Können Länder wie die Schweiz als Inspiration für andere dienen? Ja – doch einfach kopieren lassen sich politische Institutionen nicht.
Von Lukas Leuzinger
In Deutschland fordert die AfD in ihrem Wahlprogramm direkte Demokratie „nach Schweizer Vorbild“. Auch die FPÖ möchte Volksabstimmungen einführen. Doch haben diese Parteien das Schweizer Modell wirklich verstanden? Wer genau hinschaut, sieht nämlich, dass das schweizerische politische System nicht allein aus direkter Demokratie besteht, sondern diese eingebettet ist in ein austariertes System von Machtkontrolle und Machtteilung.
Dennoch stellt sich die Frage, ob und wie das Schweizer Modell auf andere Staaten übertragen werden könnte. Der Vergleich verschiedener Demokratien und die Identifikation ihrer Stärken tun insbesondere deshalb not, weil vielerorts ein Rückschritt der Demokratie zu beobachten ist. Gemäß dem jüngsten Bericht des Projekts Varieties of Democracy leben inzwischen mehr Menschen in Ländern, die autokratischer werden, als in solchen, die demokratischer werden. „Wir sehen eine Autokratisierung, nicht nur in Demokratien, sondern auch in bereits autoritären Systemen“, sagt Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für internationale Politik.
Nur scheinbar demokratisch
Diese Tendenz unterstreichen qualitative Untersuchungen. Bálint Madlovics und sein Team am CEU Democracy Institute in Budapest haben die politischen Systeme in postkommunistischen Ländern verglichen und verschiedene Muster identifiziert und in einem Rahmen in der Form eines Dreiecks klassifiziert. Ein Pol stellt die liberale Demokratie dar, einer die patronale Autokratie und einer die kommunistische Diktatur. Dazwischen gibt es weitere Typen, etwa die patronale Demokratie (zwischen liberaler Demokratie und patronaler Autokratie).
Verschiedene postkommunistische Länder haben sich in Richtung einer patronalen Demokratie bewegt oder gar in eine patronale Autokratie verwandelt, wie die Forschung von Madlovics zeigt. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion glaubten die meisten Politikwissenschaftler, dass die befreiten Länder zu liberalen Demokratien werden würden. Um die Jahrtausendwende merkten sie jedoch, dass dies weniger leicht sein könnte als gedacht.“ Verschiedene Länder hätten zwar formell demokratische Institutionen etabliert, mit Parlamenten, Mehrparteiensystemen, Wahlen und Verfassungsgerichten. Doch hinter der Fassade verstecke sich oft autokratische Politik.
Madlovics betont die Rolle informeller Strukturen. „Man sollte nicht nur auf formelle Institutionen fokussieren.“ In Ländern wie der Ukraine, Rumänien oder Bulgarien gehe es in der Politik nicht um politische Parteien, die im Wettbewerb miteinander stünden. Auf der Oberfläche gebe es politische Parteien, doch hinter diesen Parteien dominierten informelle politisch-wirtschaftliche Netzwerke. „Sie streben danach, Macht an sich zu reißen und die Staatsmacht zu nutzen, um Ressourcen anzuhäufen.“
In den zentraleuropäischen und baltischen Staaten sei die Demokratisierung im Allgemeinen erfolgreicher verlaufen. „Sie hatten ein schwächeres Erbe, was solche informellen Strukturen betrifft.“
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„Es gibt nicht eine schweizerische Demokratie. Das politische Modell besteht aus verschiedenen Pfeilern.“
Daniel Bochsler
Widerstandsfähige Institutionen
Außerdem betont Madlovics die Bedeutung von Institutionen, die patronale Netzwerke daran hinderten, dominant zu werden. Eine davon ist eine geteilte Exekutive mit einem Präsidenten und einem Ministerpräsidenten, die unabhängig voneinander gewählt werden. Womöglich noch wichtiger aus Sicht von Madlovics ist ein proportionales Wahlsystem. „In einem solchen ist es sehr schwierig, eine Monopolstellung zu erhalten.“ In Ungarn änderte Viktor Orbán das Wahlsystem, so dass es weniger proportional wurde. Daraufhin gewann seine Partei Fidesz bei den Wahlen 2014 mit 45 Prozent der Stimmen fast zwei Drittel der Parlamentssitze.
Eine weitere Beschränkung der Macht ist Dezentralisierung. „In Polen versuchte Kaczynski, eine Autokratie aufzubauen, scheiterte aber. Einer der wichtigsten Gründe waren die starken Lokalregierungen, die ihre eigenen Einnahmen haben. Dadurch sind sie nicht von der Zentralregierung abhängig.“ Diesbezüglich könne auch die Schweiz ein Modell sein.
System der Machtteilung
Tatsächlich zeichnet sich das das schweizerische politische System durch Institutionen aus, die Macht teilen. Direkte Demokratie wirkt zwar auf den ersten Blick als ziemlich grobes Mittel der Dominanz der Mehrheit. Doch bei genauerem Hinsehen ist sie ein Instrument, das den Bürgern erlaubt, die Mächtigen zu kontrollieren, ihre Interessen zu artikulieren und Veränderungen anzustoßen. Zudem wirkt direkte Demokratie in der Praxis so, dass immer wieder andere Gruppen zusammenspannen und Allianzen bilden. Keine Gruppe kann alleine dauerhaft die Politik bestimmen.
Die direkte Demokratie wird außerdem ergänzt durch ein ausgeklügeltes System der Machtteilung. In der siebenköpfigen Regierung sind die vier größten Parteien gemäß ihrer Wählerstärke vertreten. Auch auf eine ausgeglichene Zusammensetzung nach Sprachen und geografischer Herkunft wird geachtet. Bevor die Regierung ein Gesetzesprojekt ins Parlament schickt, hört sie alle wichtigen Interessengruppen im Rahmen des sogenannten Vernehmlassungsverfahrens an.
Hinzu kommt eine Teilung der Macht in vertikaler Hinsicht. Im föderalen Schweizer System haben die Kantone (und Gemeinden) ausgeprägte Autonomie und Mitspracherechte – auch wenn das Gewicht des Bundes in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker geworden ist.
Der Schweizer Politikwissenschafter Daniel Bochsler von der Central European University in Wien betont deshalb: „Es gibt nicht eine schweizerische Demokratie. Das politische Modell besteht aus verschiedenen Pfeilern.“ Entsprechend muss man aus seiner Sicht differenzieren, wenn es darum geht, die Schweiz zum Vorbild zu nehmen. Dennoch ist er überzeugt, dass andere Länder von den Erfahrungen der Schweiz lernen können.
Das ist mancherorts bereits geschehen, gerade in Ländern, die tiefe ethnische, sprachliche oder religiöse Gräben aufweisen oder gar einen Bürgerkrieg erlebt haben. So berieten Schweizer Diplomaten in Nepal oder Sudan die Konfliktparteien bei der Ausarbeitung einer Verfassungsordnung, die nach den dortigen Konflikten Stabilität und Kompromisse befördern sollte. Simples „Copy-Paste“ von Institutionen, die in der Schweiz funktionieren, sei dabei kein erfolgversprechender Weg. „Der Kontext ist entscheidend für eine Verfassungsordnung“, so Bochsler. In der Schweiz habe sich eine politische Kultur entwickelt, die auf Kompromiss und Machtteilung ausgelegt sei. Dennoch ist er überzeugt: „Die Schweiz könnte viel mehr machen, um sich dem ,democratic backsliding‘ entgegenzustellen.“
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„Man kann Demokratie nicht exportieren, aber man kann den ,Spirit‘ der Demokratie exportieren.“
Cengiz Günay
Beschränkt exportierbar
Cengiz Günay ist skeptischer. Demokratie müsse wachsen aus etwas heraus. Die Schweiz sei ein Sonderbeispiel, hier sei die direkte Demokratie etabliert. „Doch mit Desinformation und populistischen Instrumenten kann die direkte Demokratie missbraucht werden, um die Mehrheitsmeinung in die eine oder andere Richtung zu lenken.“ Er glaube deshalb nicht, dass direkte Demokratie eine Lösung für die Krise der Repräsentation sein könne. Für Günay ist klar: „Man kann Demokratie nicht exportieren, aber man kann den ,Spirit‘ der Demokratie exportieren.“
Auch Bálint Madlovics sagt, dass autokratische Herrscher Volksabstimmungen dazu nutzen können, um die eigene Macht auszubauen. Dennoch könnten Referenden die Demokratie auch befördern. „Zu den Kernprozessen einer liberalen Demokratie gehört die öffentliche Beratschlagung. Direkte Demokratie kann diesen Prozess stärken.“
Wer also demokratische Modelle der Schweiz oder anderer Staaten zum Vorbild nehmen möchte, sollte berücksichtigen, dass diese stets in einen Kontext eingebettet sind. Und dass nicht nur formelle Institutionen wichtig sind, sondern auch die politische Kultur. Und diese lässt sich nicht einfach so kopieren.
Lukas Leuzinger ist stv. Chefredaktor der Zeitschrift Schweizer Monat
BÁLINT MADLOVICS
MA Bálint Madlovics ist Junior Research Fellow am Democracy Institute der Central European University in Budapest. Der Politikwissenschaftler, Ökonom und Soziologe forscht zur Demokratisierung von postkommunistischen Ländern.
DANIEL BOCHSLER
Daniel Bochsler ist Associate Professor für Politikwissenschaft an der Central European University und Professor an der Universität Belgrad. Er forscht zu politischen Institutionen, Wahlen und Parteien.
CENGIZ GÜNAY
Dr. Cengiz Günay ist Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik (OIIP) und Lektor an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratieentwicklung, Islamismus und EU-Nachbarschaftspolitik.
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