Wissenschaftliche Erkenntnisse sind heute allgegenwärtig in der Politik. Warum Wissenschaft und Demokratie einander brauchen – aber auch klar getrennt werden müssen.
Von Miguel de la Riva
Ob mit Blick auf die inzwischen überstandene Covid19-Pandemie oder die sich immer weiter zuspitzende Klimakrise: In vielen politischen Debatten sind wissenschaftliche Erkenntnisse heute allgegenwärtig. Oft scheinen sie geradezu Handlungszwänge aufzuzeigen, denen nachzukommen Demokratien schwerfällt – sei es beim Tragen von Masken, sei es bei der immer dringlicheren Reduktion von Treibhausgasen. Kein Wunder also, dass viele Aktivist_innen heute fordern: „Follow the science!“ Muss demokratische Politik wissenschaftlicher werden?
„Es gibt wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft und Demokratie, etwa mit Blick auf geteilte Grundwerte wie Offenheit, Vielfalt und kritischem Diskurs“, sagt Elmar Pichl, der seit zwölf Jahren die Hochschulsektion im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung leitet. Zudem sei beiden die Prozesshaftigkeit eigen – weder in der Wissenschaft, noch in der Demokratie gebe es letztgültige Ergebnisse, sondern alles werde immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt. Und doch: „Die letzten Jahre – auch im Kontext der Covid-Krise – haben gezeigt, dass die Wissenschaft alleine keine politischen Entscheidungen treffen kann und sich die Politik durch Wissenschaft nicht entledigen kann, ihre Entscheidungen selber zu treffen.“
Denn laut Pichl folgen Wissenschaft und Demokratie einer je eigenen Logik: „Die Wissenschaft kommt über Argument und Evidenz zu Erkenntnis, die Demokratie kommt mit Argument und Konsens zu Entscheidungen.“ Selbst wenn eine Faktenlage eindeutig scheinen mag – denn auch in der Wissenschaft kommt es dazu, dass dieselben Phänomene unterschiedlich gesehen werden –, stets blieben viele noch zu treffende Entscheidungen offen. So klar es etwa ist, dass wir den Treibhausgasausstoß reduzieren müssen, so umstritten bleibt zugleich, was das konkret für das Energieverbrauchs- und Mobilitätsverhalten bestimmter Menschen oder die Abwägung von umwelt-, wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen bedeutet, so Pichl.
Wissenschaftliche Erkenntnisse könnten zwar dabei helfen, politische Entscheidungen besser zu begründen und so für sie zu werben. Die Suche nach Konsens und Mehrheiten, wie es bei demokratischen Entscheidungen unabdingbar ist, können sie aber nicht ersetzen, sagt Pichl: „Die Bewegungen, die sich unter ‚follow the science‘ versammeln, sind keine wissenschaftlichen Bewegungen, sondern politische Bewegungen – sie werben für eine bestimmte Politik, in ihrem Fall eine, die stärker auf wissenschaftliche Evidenzen schaut.“
Epistemisierung des Politischen
Für die Maskierung politischer Konflikte als Konflikt von Wissensansprüchen hat Alexander Bogner den Ausdruck der „Epistemisierung des Politischen“ geprägt. Der Wissenschaftssoziologie von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften meint, dass es angesichts der großen Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für viele politische Fragen manchmal so scheint, „als ob es nur darum geht, das bessere Wissen zu mobilisieren, weil auf dieser Grundlage dann auch klar wäre, welche politische Position sich durchzusetzen hat.“ Tatsächlich jedoch gehe es in der politischen Auseinandersetzung um normative Zielkonflikte, die nicht allein durch wissenschaftliche Erkenntnisse entscheidbar sind, etwa wie Freiheit und Gesundheit in einer Pandemie auszubalancieren sind.
In einer pluralistischen Gesellschaft, in der in solchen heiklen Wertfragen oft kein Konsens herrscht, müsse demokratische Politik nach einem Ausgleich konfligierender Werte, Weltanschauungen und Interessen suchen. Doch wenn sich die Auseinandersetzung darauf beschränkt, Gutachten und Gegengutachten gegeneinander in Stellung zu bringen, werden die Wertekonflikte von einem Wettbewerb darum verdrängt, wer das beste Wissen aufbieten kann. „Follow the science“ sieht Bogner in diesem Sinne zweischneidig: So klar es ist, dass demokratische Entscheidungen im Lichte des maßgeblichen Sachstandwissens erfolgen sollen, so sehr sei es ein Missverständnis, die Politik habe nichts mehr zu tun, wenn die Wissenschaft gesprochen habe.
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„Die Wissenschaft kommt über Argument und Evidenz zu Erkenntnis, die Demokratie kommt mit Argument und Konsens zu Entscheidungen.“
Elmar Pichl
Wissensbegründeter Handlungszwang
Doch kennen nicht auch in einer pluralistischen Gesellschaft Wertekonflikte Grenzen? Gibt es nicht Situationen, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse insoweit Handlungszwang begründen, als Werte zur Disposition stehen, die wir nicht für diskutierbar halten? So können wir doch nicht ernsthaft darüber sprechen, ob jemand das Recht hat, andere aus bloßer Fahrlässigkeit mit einer gefährlichen Krankheit anzustecken. Bogner gesteht zu: Gewisse Krisensituationen könnten durchaus ein geradezu expertokratisches Regieren erforderlich machen, so wie etwa zu Beginn der Pandemie. Doch gerade auch dann, wenn es um Werte geht, die wir nicht für verhandelbar halten, ist es wichtig, Wertekonflikte als solche auszutragen – nicht zuletzt um jene zu entlarven, die mit Scheinwissen in die Öffentlichkeit treten, anstatt sich offen zu den dahinterstehenden, oft höchst fragwürdigen normativen Positionen zu bekennen.
Doch so wichtig es ist, Werte- und Wissenskonflikte auseinanderzuhalten – wie die Politikwissenschafterin Karin Bischof von der Universität für Weiterbildung Krems unterstreicht, braucht die Demokratie auch die Wissenschaft. Sie verweist als Beispiel auf die guten wissenschaftlichen Belege dafür, dass Deutschklassen in Bildungseinrichtungen für den Erwerb von Deutschkenntnissen bei Kindern und Jugendlichen nicht günstig sind. Werden solche Erkenntnisse ignoriert ist das ein Problem, weil es so zu Ineffizienz kommt: Demokratische Politik erreicht ihre ausdrücklichen Ziele nicht so gut, wie sie diese erreichen könnte, würde sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen. Mit ihren Erkenntnissen stellen die Wissenschaften insoweit eine essentielle Ressource für eine gelingende demokratische Streitkultur zur Verfügung, so Bischof.
Dieser Aufgabe in der Demokratie kann die Wissenschaft besser nachkommen, wenn sie auch in sich demokratischer verfasst ist. Bischof hat dabei vor allem prekäre Arbeitsbedingungen und starre Hierarchien im Blick: Wenn zahllose Menschen im Wissenschaftssystem befristet beschäftigt sind und viele nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit ausscheiden müssen, weil es keine langfristigen Perspektiven gibt, gingen Ressourcen, Erfahrungen und Synergien verloren. Zudem werde so das langfristige und interdisziplinäre Arbeiten behindert, welches angesichts vieler einander überlagernder und gegenseitig verstärkender Probleme essentiell ist.
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„So klar es ist, dass demokratische Entscheidungen im Lichte des maßgeblichen Sachstandwissens erfolgen sollen, so sehr ist es Missverständnis, die Politik habe nichts mehr zu tun, wenn die Wissenschaft gesprochen hat.“
Alexander Bogner
Wissenschaft braucht Freiheit
Umgekehrt braucht aber auch die Wissenschaft die Demokratie, um zu gedeihen. Bogner bringt ihre Beziehung so auf den Punkt: „Die Demokratie ist konstitutiv auf die Wissenschaft angewiesen ebenso wie die Wissenschaft ihrerseits auf die Demokratie.“ Zwar gibt es erfolgreiche Wissenschaft auch in Einparteien-Regimen wie China. Doch historische Beispiele zeigen, welche katastrophalen Folgen die Missachtung der Wissenschaftsfreiheit haben kann, wie sie in autoritären Regimen an der Tagesordnung ist.
Bogner nennt dabei etwa den Lyssenkoismus, eine Vererbungslehre, die in der Sowjetunion unter Stalin an Einfluss gewann, weil sie sich an den ideologisch erwünschteren Lehren Lamarcks und nicht jenen Darwins orientierte. Mit der irrigen Lehre versuchte man, bestimmte Kulturpflanzen so zu züchten, dass sie etwa auch in Sibirien angebaut werden könnten – was scheiterte und Hungersnöte mit Millionen von Toten zur Folge hatte. „Vor solcher Politisierung scheint die liberale Demokratie die Wissenschaft am besten schützen zu können“, sagt Bogner. Zugleich zeige das Beispiel, wie wichtig es ist, dass sich auch die Politik am besten verfügbaren Wissen orientiert.
ELMAR PICHL
Der Jurist Mag. Elmar Pichl ist Leiter der Hochschulsektion im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Er war davor u.a. für die Universität Graz und das World University Service Austria tätig.
ALEXANDER BOGNER
PD Dr. Alexander Bogner arbeitet an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Technikfolgenabschätzung. Er ist habilitierter Soziologe mit Schwerpunkt in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Umwelt.
KARIN BISCHOF
Univ.-Prof.in Dr.in Karin Bischof hält die Universitätsprofessur für Europapolitik und Demokratieforschung an der Universität für Weiterbildung Krems, wo sie das gleichnamige Department leitet. Davor war sie unter anderem als Assistenzprofessorin an der Hebrew University und als Associate Professor an der Universität Wien tätig.
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