Verfassungsgerichte schützen die Demokratie vor autokratischen Strömungen. Doch zuletzt mehrten sich auch liberale Stimmen, die die zunehmende Machtfülle der europäischen Höchstgerichte kritisch sehen.
Von Jakob Pflügl
Egal ob man nach Polen sieht, nach Ungarn, ins Peru der 1990er Jahre oder ins Venezuela der 2000er-Jahre: Wenn autokratische Strömungen ihre Macht zementieren und die Demokratie Schritt für Schritt aushöhlen, dann nehmen sie zuerst stets die unabhängigen Höchstgerichte ins Visier. Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zeichnen in ihrem Bestseller „Wie Demokratien sterben“ einen bildhaften Vergleich: Wer in einem Fußballmatch den Gegner in Schach halten und das Spiel nach seinen eigenen Regeln gestalten will, der muss zunächst die Schiedsrichter_innen unter seine Kontrolle bringen.
Beispiele dafür gibt es viele: Als Viktor Orbán im Jahr 2010 an die politische Spitze Ungarns zurückkehrte, vergrößerte er das Verfassungsgericht kurzerhand von elf auf 15 Richter_innen und nutzte den Ernennungsmodus, um Richter_innen auszusuchen, die seiner Partei nahestehen. Im Jahr 2015 weigerte sich die damalige polnische PIS-Staatsführung, drei bereits vom Parlament bestellte Höchstrichter_innen zu vereidigen und berief stattdessen eigene Kandidat_innen ins Gericht. Alberto Fujimori, Perus Präsident der 1990er-Jahre, ließ Höchstrichter_innen wegen angeblicher Dienstverfehlungen ihres Amtes entheben. Und der venezolanische Staatschef Hugo Chávez wies seine Nationalversammlung im Jahr 1999 an, überhaupt gleich einen neuen Gerichtshof zu gründen.
Das Playbook autokratischer Strömungen ist kein Zufall. Oberste Gerichte und Verfassungsgerichte sind meist mit einer enormen Machtfülle ausgestattet – und das macht sie zu natürlichen Feinden autokratischer Parteien. „Neben der Befugnis verfassungswidrige Gesetze aufzuheben, können sie für autokratische Regierungen auch über Amtsenthebungsverfahren gefährlich werden“, erklärt Anna Gamper, Professorin für Verfassungsrecht an der Universität Innsbruck und Ersatzrichterin am Staatsgerichtshof in Liechtenstein. Gerichte sollten sich laut Gamper nicht als politische Oppositionen verstehen – das sei nicht ihre Aufgabe. „Wenn Parlamente verfassungswidrige Gesetze beschließen, kommt Verfassungsgerichten aber zwangsläufig eine oppositionelle Rolle zu, weil sie der Verfassung verpflichtet sind“, sagt Gamper.
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„Gerichte sollten sich nicht als politische Opposition verstehen.“
Anna Gamper
Zu viel Macht?
Verfassungsgerichte sind für liberale Demokratien schon immer essenziell. In den vergangenen 30 Jahren haben sie in West- und Osteuropa allerdings noch einmal zusätzlich an Bedeutung gewonnen – so sehr, dass zuletzt sogar liberale Stimmen laut wurden, die die Machtfülle der Institutionen kritisch sehen. Philip Manow, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Siegen, warnte in seinem Buch „Unter Beobachtung“ etwa vor einer „Konstitutionalisierung der Demokratie“, die zu einer „Einengung der Politik“ führe. In der liberalen Demokratie hätten Wahlen laut Manow an Bedeutung verloren, weil Gerichte enge Grenzen für die Politik festsetzen würden. Wenn aber Höchstgerichte den Spielraum demokratisch gewählter Parlamente zu sehr beschränken, dann führe das dazu, dass Wähler_innen das Vertrauen in den Parlamentarismus verlieren. Wer das Gefühl habe, die eigene Stimme könne nichts ändern, wende sich populistischen Parteien zu oder gleich ganz von der Demokratie ab.
Konkret diskutiert wurde diese Thematik zuletzt nach zwei aktuellen Urteilen europäischer Höchstgerichte. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte vergangenes Jahr klar, dass Frauen aus Afghanistan – vereinfacht gesagt – jedenfalls Anspruch auf Asyl haben. Die ehemalige Präsidentin des österreichischen Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss, bezeichnete die Entscheidung zwar als „konsequent“ im Sinne der bisherigen Rechtsprechung, allerdings müssten Höchstgerichte künftig stärker auf die „Einstellung in der Bevölkerung“ eingehen. Andernfalls werde das Vertrauen in die Rechtsprechung und das Ansehen der Gerichte beschädigt.
Das zweite kritisierte Urteil ging vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aus. Er entschied, dass Klimaschutz als Menschenrecht gilt und verpflichtete die Schweiz dazu, mehr Emissionen einzusparen. Aus der Schweiz tönte der Vorwurf, die Entscheidung würde demokratische Spielräume zu weit einschränken. Auch Angelika Nußberger, Professorin an der Universität zu Köln und ehemalige EGMR-Richterin, sieht die Entscheidung kritisch. Der Gerichtshof habe eine Beschwerde von Klimaaktivist_innen für zulässig erklärt, die er laut der Expertin für unzulässig erklären hätte müssen, wenn er seiner bisherigen Rechtsprechung gefolgt wäre. Stattdessen habe der Gerichtshof speziell für Klimaklagen neue Kriterien aufgestellt. „Das war aus meiner Sicht keine Rechtsanwendung, sondern pragmatische Rechtsschöpfung“, meint Nußberger.
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„Es darf nicht Tagespolitik sein, wie weit Menschenrechte reichen.“
Gabriel M. Lentner
Schutz der Minderheit
Laut Fachleuten kommt es nicht von ungefähr, dass gerade die beiden aktuellen Urteile für Kritik sorgen. „Wenn Gerichtshöfe aktive Pflichten der Staaten formulieren, greift das natürlich stärker in die gesetzgeberische Tätigkeit ein als beim klassischen Verständnis von Menschenrechten als Abwehrrechte“, sagt Gabriel M. Lentner, Assoziierter Professor für Internationales Recht an der Universität für Weiterbildung Krems. „Urteile werden aber nicht im luftleeren Raum gefällt. Der EGMR sagt, dass Menschenrechte nicht theoretisch bleiben dürfen, sondern praktisch wirksam sein müssen. Und dafür braucht es eben aktive Pflichten der Staaten.“
Dass sich die Gerichtshöfe dabei zu viel Spielraum herausnehmen und sich völlig von den politischen Verhältnissen abkoppeln, glaubt Lentner nicht. Zwar sollten Gerichte zu einem gewissen Grad gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. In der unabhängigen Gerichtsbarkeit gehe es aber gerade nicht darum, Mehrheitsmeinungen abzubilden, sondern darum, die Rechte Einzelner zu schützen. „Es darf nicht von der Tagespolitik abhängig sein, wie weit ein Menschenrecht reicht“, betont Lentner. Ähnlich formuliert es die ehemalige EGMR-Richterin Nußberger: „Der Schutz der Menschenrechte kann gerade auch bedeuten, sich ‚gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen‘ entgegenzustellen, wenn sie in die falsche Richtung gehen.“
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„Das war keine Rechtsanwendung, sondern Rechtsschöpfung.“
Angelika Nußberger
Demokratisch legitimiert
Lentner und Nußberger weisen zudem auf einen Umstand hin, den Kritiker_innen von Höchstgerichten mitunter übersehen. Gerichte sind in den allermeisten Fällen nicht fernab der politischen Realität verortet, sondern sehr wohl demokratisch legitimiert – auch der EuGH und der EGMR. Schließlich werden Höchstrichter_innen von gewählten Institutionen wie Parlamenten, Regierungen oder Staatsoberhäuptern jeweils für eine bestimmte Amtszeit ernannt.
In Sachen Unabhängigkeit ist das freilich ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite können demokratische Mehrheiten über die Auswahl der Richter_innen zumindest indirekt Einfluss auf die Rechtsprechung ausüben. Andererseits besteht die Gefahr der politischen Vereinnahmung. Aus Sicht von Rechtsprofessorin Gamper kommt man um die Bestellung der Richter_innen durch Parlamente oder Regierungen allerdings kaum herum. Die demokratische Legitimation sei für das Vertrauen in die Höchstgerichte essenziell. Ansetzen solle man jedoch bei den notwendigen Qualifikationen für das Amt, bei Regeln zur Unvereinbarkeit und bei mehr Transparenz im Auswahlverfahren.
Eine absolute Garantie dafür, dass Höchstgerichte nicht irgendwann in den Strudel autokratischer Strömungen wie in Ungarn, Polen, Peru und Venezuela geraten, gibt es nicht. Die Gesellschaft kann aber Vorkehrungen treffen. Laut Gamper sollten die Grundregeln von Verfassungsgerichten in der Verfassung selbst verankert sein, zum Beispiel die Anzahl der Richter_innen und deren Amtsdauer. In Österreich war das schon bisher der Fall, in Deutschland hat man eine entsprechende Reform mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit gegen die Stimmen der AfD kürzlich nachgeholt – rechtzeitig vor der Bundestagswahl im Februar 2025.
Jakob Pflügl ist Journalist bei der Tageszeitung Der Standard
ANNA GAMPER
Univ.-Prof.in Dr.in Anna Gamper ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck und Ersatzrichterin des Staatsgerichtshofs des Fürstentums Liechtenstein. Sie forscht zum österreichischen Verfassungsrecht und zu Verfassungsvergleichung.
ANGELIKA NUßBERGER
Prof.in Dr.in Dr.in h.c. Angelika Nußberger leitet die Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz in Köln. Von 2011 bis 2020 war sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seit 2020 ist sie Richterin am Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina, seit 2024 als Vizepräsidentin.
GABRIEL M. LENTNER
Ass.-Prof. Dr. Gabriel M. Lentner ist stv. Leiter des Departments für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen der Universität für Weiterbildung Krems, wo er den Fachbereich „Internationales Recht und Alternative Streitbeilegung“ leitet. Er ist seit 2014 Fellow an der Stanford Law School.
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