Social Media, der Mob und die (Nicht-)Moderation: Wo alle Mitreden und Recht haben wollen, bleiben Diskurs und Vertrauen in evidenzbasierte Expertise auf der Strecke. Sind unsere Demokratien auf dem Weg zur Ochlokratie?

Von Georg Renner

Als Donald Trump unmittelbar nach seinem zweiten Amtsantritt als US-Präsident im Jänner – wie lange im Voraus angekündigt - jene Kapitol-Stürmer begnadigte, die am 6. Jänner 2021 gewaltsam in das Herzstück der amerikanischen Demokratie eingedrungen waren, schien sich zu bestätigen, wovor politische Beobachter_innen seit Jahren warnen: Die Gefahr einer schleichenden Transformation westlicher Demokratien in eine Ochlokratie – die Herrschaft des aufgehetzten Mobs. Denn genau das war der Sturm aufs Kapitol: der Versuch einer aufgebrachten Menge, den demokratischen Prozess durch pure Gewalt zu ersetzen.

Trumps Ankündigung erfolgte just zu einem Zeitpunkt, als die großen Social-Media-Plattformen ihre Zügel für politische Äußerungen weiter lockerten: Elon Musks X (vormals Twitter) hatte Trump bereits wieder zugelassen, Meta folgte mit der Freigabe von Trumps Facebook- und Instagram-Accounts. Was als Argument für mehr demokratischen Diskurs präsentiert wurde, könnte sich als Brandbeschleuniger für die weitere Entwicklung Richtung Ochlokratie erweisen – einer Herrschaftsform, in der nicht mehr Argumente und demokratische Prozesse entscheiden, sondern die Lautstärke der Masse und ihre Fähigkeit zur Einschüchterung.

Martin Weiss, der als damaliger österreichischer Botschafter in Washington das Ende der ersten Trump-Amtszeit und den Kapitolsturm aus nächster Nähe miterlebte, warnt allerdings vor übertriebener Dramatisierung: „Reiche oder Superreiche mit Einfluss auf die US-Politik hat es schon oft gegeben, denken Sie an Carnegie oder Rockefeller“, sagt der heutige Präsident des Salzburg Global-Seminars. Er verweist darauf, dass die Institutionen der US-Verfassung – von den Gerichten über die föderale Mitwirkung der Bundesstaaten bis zur Kontrolle der Regierung durch die Abgeordneten in Senat und Repräsentantenhaus – intakt und stabil seien. Die Resilienz dieser Institutionen zeigte sich etwa in der Rolle der Wahlprüfungskommissionen einzelner Bundesstaaten nach der Präsidentschaftswahl 2020, als sie trotz massiven politischen Drucks an ihrer faktenbasierten Bewertung der Wahlergebnisse festhielten.

Emotionalisierungsspirale

„Nein, ich glaube nicht, dass wir am Weg in die Ochlokratie sind“, sagt auch Peter Filzmaier. Der Politikwissenschaftler und Professor für Demokratiestudien an der Universität für Weiterbildung Krems wendet aber ein, dass seit Jahren eine „spiralförmig nach oben drehende Emotionalisierung gegen Expertenwissen“ im Gang sei. Diese Entwicklung sei nicht erst seit den Kontroversen um Corona-Maßnahmen sichtbar geworden: „Die Versäumnisse in der Kommunikation gibt es nicht erst seit 2020.“ Die Skepsis und das Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher Expertise seien über Jahre und Jahrzehnte gestiegen und äußerten sich inzwischen auch in offener Feindseligkeit, bis hin zur Aggression gegen öffentlich aktive Expertinnen und Experten. Die Anfeindungen reichen dabei von organisierten Shitstorms in sozialen Medien bis hin zu persönlichen Bedrohungen, wie sie etwa der deutsche Virologe Christian Drosten während der Pandemie erfuhr – klassische Mittel des Mob-Drucks, der rationale Debatte durch Einschüchterung ersetzt.

„Durch die mediale Entwicklung konnte sich auf einmal jeder als Experte gerieren“, erklärt Filzmaier. Die Algorithmen der sozialen Medien würden Schnelligkeit von Nachrichten und deren emotionale Resonanz belohnen – nicht die sorgfältige Abwägung und jahrzehntelang erworbenes Wissen. „Und die Sehnsucht nach Orientierung, nach schnellen, klaren Antworten, ist gerade in Krisenzeiten groß – Populisten liefern diese vermeintlich einfachen Lösungen, während die Wissenschaft notwendigerweise zögert, bevor sie etwas Falsches behauptet“. Das sei in der modernen Medienwelt ein struktureller Nachteil.

Peter Filzmaier

„Seit Jahren ist eine spiralförmig nach oben drehende Emotionalisierung gegen Expertenwissen im Gang.“

Peter Filzmaier

Wendejahr 2015

Den Wendepunkt in dieser Entwicklung datiert Liriam Sponholz vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung präzise auf das Jahr 2015. Im Vorfeld von Trumps Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten und der Brexit-Abstimmung habe sich der Aufstieg der neuen, „hybriden“ Medienlandschaft als Ort des politischen Diskurses vollzogen. Die Folge war eine zunehmende Fragmentierung der Debatten in „Echokammern“ und einseitige Propaganda-Channels. „Das geht in Richtung ‚Gesetz des Dschungels', dass der lauteste die meiste Reichweite bekommt", analysiert Sponholz, die derzeit an der Universidade Federal in ihrem Heimatland Brasilien forscht und unterrichtet.

Dieses "Gesetz des Dschungels" manifestiert sich in verschiedenen Phänomenen: Provokante Tweets erreichen ein Vielfaches der Aufmerksamkeit von sachlichen Analysen, emotionale Ausbrüche werden durch Algorithmen bevorzugt weitergereicht, und die Anzahl der Follower wird wichtiger als die Qualität der Argumente. Es ist genau diese Mechanik, die einer Ochlokratie den Weg bereitet: Wer am lautesten schreit und die größte Gefolgschaft mobilisieren kann, bestimmt den Diskurs. Ein eindrückliches Beispiel lieferte der "Twitter-Files"-Skandal: Während investigative Journalist_innen monatelang tausende interner Twitter-Dokumente analysierten, dominierten vor allem jene die Debatte, die am lautesten „Zensur“ schrien – unabhängig von den tatsächlichen Erkenntnissen.

Gut gemeinte Gegenmaßnahmen hätten die Situation teilweise noch verschärft: „Als Content Moderation eingeführt wurde, sind vor allem rechte Politikerinnen und Politiker deplattformiert worden", sagt Sponholz. Das habe die Zersplitterung der Medienlandschaft weiterbefördert, da weder die betroffenen Politiker_innen, noch deren Anhänger_innen damit verschwunden seien – sie hätten sich stattdessen andere Plattformen gesucht, von Gab über Telegram bis hin zu Trumps eigenem Netzwerk Truth Social. Die Folge ist eine Art Zersplitterung der digitalen Öffentlichkeit: Statt eines gemeinsamen Diskursraums entstehen separate Informationsuniversen mit eigenen „Wahrheiten“ und Deutungsmustern – ideale Brutstätten für jene Gruppendynamiken, die demokratische Prozesse durch Mobherrschaft ersetzen können.

Miriam Sponholz

„In einer Demokratie müssen wir zunächst einmal über dasselbe reden.“

Miriam Sponholz

Gemeinsame Agenda fehlt

„In einer Demokratie müssen wir zunächst einmal über dasselbe reden“, betont Sponholz. Die Fragmentierung öffentlicher Diskurse mache es zunehmend schwieriger, auch nur eine minimale gemeinsame Agenda unterschiedlicher politischer Richtungen aufzustellen – der Weg zu einer Konsensbildung würde somit länger und länger. Dies zeigt sich etwa in der Migrationsdebatte, wo verschiedene politische Lager nicht einmal mehr die gleichen Grunddaten über Zuwanderung, Integration oder Kriminalität teilen, geschweige denn zu gemeinsamen Lösungsansätzen kommen.

Dennoch sieht auch Weiss in der veränderten Medienlandschaft eine zentrale Herausforderung für die demokratische Gesellschaft: „Ohne eine gemeinsame Faktenbasis, ohne sich zunächst einmal darüber klar zu sein, ob es überhaupt ein Problem gibt, wird es kompliziert bis unmöglich, politische Lösungen für Probleme zu erarbeiten.“ Diese Fragmentierung zeigt sich beispielsweise in der Klimadebatte, wo in manchen Diskursräumen der menschengemachte Klimawandel als wissenschaftlich gesicherte Tatsache gilt, während er in anderen als „Hysterie“ oder „Panikmache“ abgetan wird – eine Spaltung, die konstruktive politische Lösungen erheblich erschwert.

Filzmaier sieht in dieser Entwicklung jedoch keinen unaufhaltsamen Automatismus. Auch die Institutionen, aus denen etwa jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Öffentlichkeit kämen, die nun – wie die Virologen und andere Medizinerinnen während der Corona-Jahre – massiv angefeindet würden, müssten sich kritischen Fragen stellen. „Lange Zeit haben Universitäten die Kommunikation von dem, was sie tun, die Wissenschaftsvermittlung, hintangestellt“, kritisiert er. Man habe zu wenig Ressourcen aufgewendet, die Expertinnen und Experten vorzubereiten – „man hat zum Beispiel die medizinischen Experten während Corona in Interviews hineinstolpern lassen ohne nennenswertes Training“.

Martin Weiss

„Ohne eine gemeinsame Faktenbasis, ohne sich zunächst einmal darüber klar zu sein, ob es überhaupt ein Problem gibt, wird es kompliziert bis unmöglich, politische Lösungen für Probleme zu erarbeiten.“

Martin Weiss

Verlässliche Informationen liefern

Der oft zitierte Stehsatz, wie demokratische Gesellschaften mit diesem Missverhältnis künftig umgehen könnten, lautet: Bildung ist die Lösung. Das sei zwar nicht falsch, sagt Filzmaier, aber eben nur ein Teil der Antwort. Jene Institutionen, die Fake News und Verschwörungserzählungen mit ihrer echten Expertise begegnen könnten – allen voran die Universitäten – müssten nun selbst aktiv werden und sich klar machen, dass die öffentliche Vermittlung ihrer Inhalte Teil der Job Description sein müsse. „Es wird nicht das eine Mittel gegen Fake News geben – aber wenn wir zumindest einen Teil verlässlicher Informationen in die Öffentlichkeit bringen, ist schon viel erreicht“, sagt Filzmaier.

Auch Sponholz sieht keine einfachen Lösungen: Selbst wenn die Plattformen wieder verstärkt Moderation einführen würden, wäre das nur ein erster Ansatz – „Moderation hat jedenfalls immer Lücken, unabsehbare Folgen und ist extrem aufwendig“. Zielführender wäre es aus ihrer Sicht, die Plattformen zu designorientierten Lösungen zu bewegen – etwa der Anpassung ihrer Mechanismen, nach denen Inhalte ausgespielt werden. „Das wäre auch eine Chance für Europa, hier Leadership zu übernehmen.“

Erste positive Ansätze sind bereits erkennbar: Universitäten investieren verstärkt in Wissenschaftskommunikation und bilden ihre Expertinnen und Experten gezielt für den öffentlichen Diskurs aus. Neue Formate der Wissensvermittlung entstehen, die komplexe Zusammenhänge verständlich machen, ohne sie zu vereinfachen. Und auch auf Seiten der Plattformen gibt es Bewegung: Experimente mit alternativen Algorithmen, die nicht auf maximales Engagement, sondern auf konstruktiven Dialog optimiert sind, zeigen vielversprechende Resultate.

Gefahr schleichende Erosion

Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt: Die Gefahr für die Demokratie liegt weniger in einem dramatischen Umsturz, als in der schleichenden Erosion jener Grundlagen, die demokratische Entscheidungsfindung erst möglich machen – dem Vertrauen in Expertise, der Fähigkeit zum sachlichen Diskurs und der Bereitschaft, sich auf eine gemeinsame Faktenbasis zu einigen. Die Grenze zwischen demokratischer Willensbildung und ochlokratischer Herrschaft des Mobs ist dabei oft fließend und hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die digitalen Kommunikationsräume so zu gestalten, dass sie demokratische Deliberation fördern statt Mobmentalität. Die wachsende Sensibilität für diese Herausforderungen und die zunehmende Bereitschaft verschiedener Akteure, aktiv gegenzusteuern, geben dabei Anlass zur Hoffnung. Die Demokratie mag unter Druck stehen – aber sie entwickelt auch neue Abwehrkräfte gegen ihre Verwandlung in eine digitale Ochlokratie.

Georg Renner schreibt regelmäßig für die Wiener Zeitung und Datum


MARTIN WEISS

Dr. Martin Weiss, LLM ist seit 2022 Präsident des Salzburg Global Seminars. Davor war Weiss Botschafter der Republik Österreich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Seine diplomatische Karriere begann er 1991 als Human Rights Attaché der österreichischen Mission bei den Vereinten Nationen.

PETER FILZMAIER

Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier hält die Universitätsprofessor für Demokratiestudien und Politikforschung an der Universität für Weiterbildung Krems sowie für Politische Kommunikation an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er leitet das Institut für Strategieanalysen (ISA) und analysiert das politische Geschehen für ORF und andere Medien.

LIRIAM SPONHOLZ

Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin PD Dr.in Liriam Sponholz forscht am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung u.a. zum Thema ‚Hate Speech‘. Sie habilitierte sich an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und forscht derzeit an der Universidade Federal in ihrem Heimatland Brasilien:

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