Sebastian Schäffer, Direktor des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, plädiert für eine radikale Institutionenreform der EU. Er will die Minister-Räte abschaffen und eine Kammer der Regionen einführen.

Interview: Christian Ultsch

upgrade: Ist die Europäische Union zukunftsfit, um sich im rauer werdenden geopolitischen Umfeld zwischen Russland, China und den USA durchzusetzen?

Sebastian Schäffer: Das ist eine der wichtigsten Fragen, die uns in nächster Zeit umtreiben wird. Im aktuellen Entscheidungsfindungsprozess ist die EU immer nur so stark wie ihr schwächstes Mitglied. Denn in alle Bereichen, die geopolitisch wichtig sind, gilt immer noch das Einstimmigkeitsprinzip. Das könnte man relativ leicht ändern. Doch ich sehe dafür im Moment weder den Willen noch den Mut. Ich bin nur wenig optimistisch, dass die EU die nötigen Schritte setzen wird.

Warum?

Schäffer: Die EU hätte schon nach den zwei disruptiven Ereignissen 2016, nach dem Brexit-Referendum und Donald Trumps erstem Wahlsieg reagieren müssen. Nach der Wahl von Joe Biden 2020 haben wir uns leider wieder zurückgelehnt.  Jetzt baut sich wieder immenser Druck auf.

In welchen Bereichen sollte die EU das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben?

Schäffer: Die EU sollte, wie es in vielen Bereichen ja bereits längst geschehen ist, vor allem auch in der Außen- und Sicherheitssicherheitspolitik sowie in Asyl- und Migrationsfragen auf qualifizierte Mehrheiten überwechseln.

Das Problem ist nur, dass man genau für eine solche Änderung Einstimmigkeit bräuchte. 2005 lehnten Frankreich und die Niederlande in Referenden den EU-Verfassungsvertrag ab. War das für Sie ein Wendepunkt?

Schäffer: In Frankreich war das damals ja letztlich kein Referendum über den Verfassungsvertrag, sondern über Präsident Jacques Chirac. Danach hat man mit Ach und Krach den Lissabonner Vertrag hinbekommen. Damals galt das Argument, die EU man müsse sich zuerst intern reformieren und könne sich erst danach erweitern. Doch dazu kam es nicht.

Derzeit drängen die Westbalkanstaaten, aber auch die Ukraine, Moldau und Georgien in die EU. Liegt es nicht auf der Hand, dass die EU in ihrem jetzigen institutionellen Setting mit derart vielen neuen Mitgliedern gar nicht mehr funktionieren könnte?

Schäffer: Auch deshalb muss das Einstimmigkeitsprinzip fallen. Man sollte die Erweiterungsdebatte aber in die richtige Perspektive rücken. Die neun Kandidatenländer haben eine Gesamtbevölkerung von 67 Millionen – exakt so viel wie das Vereinigte Königreichs, das aus der EU ausgetreten ist. Der Unterschied ist natürlich: Wir hätten neun weitere Vetospieler statt einem. Und wirtschaftlich bringen die Neun nur ein Zehntel des britischen Bruttoinlandsprodukts auf die Waage. Doch europäische Integration erfolgte nie primär aus ökonomischen Gründen, sondern sollte der Stabilisierung von Demokratien dienen. Das hat in Griechenland, Spanien, Portugal und mit Abstrichen in den mittelosteuropäischen Staaten sehr gut funktioniert.

Warum reüssieren ausgerechnet im Donauraum, vor allem in Ungarn. Tschechien, der Slowakei und jetzt auch in Österreich, derzeit nationalistische Parteien, die das EU-Projekt auf ein Europa der Vaterländer zurückdrehen wollen?

Schäffer: Bis 1989 hat in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang die Politik von Moskau dominiert. Danach hatten sie 15 Jahre lang das Ziel, der EU beizutreten. Bei vielen stellte sich das Gefühl ein, dass nun alles von Brüssel geprägt sei. Diese Länder durften der EU erst beitreten, nachdem sie alle EU-Bestimmungen übernommen hatten, ohne über diese Regeln selbst entscheiden zu können. Das hat zu Anti-EU-Ressentiments beigetragen.  Zweitens hat man, und das ist die Brücke zu Österreich, den großen Fehler begangen, nach dem Beitritt nicht mehr über die Vorteile der EU zu reden. Drittens hat eine Abfolge von Krisen den Lebensstandard vieler Menschen gedrückt. Und viertens ist Westeuropa bei Topjobs in der EU bevorzugt. Da existiert immer noch eine Zweiklassengesellschaft.

Sebastian Schäffer

„Europäische Integration erfolgte nie primär aus ökonomischen Gründen, sondern sollte der Stabilisierung von Demokratien dienen.“

Sebastian Schäffer

Halten Sie es für einen Fehler, dass es derzeit keine Vision darüber gibt, wie die EU ausschauen soll, wenn sie fertig ist?

Schäffer: Ja. Mit dem Vertrag von Lissabon haben wir die Methode Monnet, in kleinen Schritten einen Politikbereich nach dem anderen zu vergemeinschaften, leise begraben. Im Lissabon-Vertrag hat die EU die Möglichkeit eingeführt, auszutreten und Kompetenzen wieder zurückzugeben. Die Idee dahinter war, dass die Mitgliedstaaten integrationsfreundlicher werden, wenn der Souveränitätsverzicht nicht den Charakter der Endgültigkeit hat. Das war jedoch ein Trugschluss. Es hat dazu geführt, dass die Ever Closer Union, an deren Ende in ferner Zukunft alles vergemeinschaftet sein sollte, nicht mehr existiert. Im Moment kursiert de facto nur ein Konzept, wie die Zukunft der EU aussehen kann: nämlich das Europa der Vaterländer, das die Rechtspopulisten vorlegen. EU-Kommissar Juncker präsentierte 2017 in einem Weißbuch fünf Szenarien für die Zukunft der EU. Damit ist seither nichts mehr passiert. Es ist ein großes Problem, dass die Nationalstaaten nach wie vor immer noch zuerst auf sich selbst schauen. Die Europawahlen sind im Endeffekt 27 parallele nationale Wahlen, in denen keine europapolitischen Themen diskutiert werden.

Auch die Idee, dass die Spitzenkandidaten der europäischen Fraktionen als Bewerber für die Kommissionspräsidentschaft antreten, ist abgeräumt. Sonst wäre 2019 Manfred Weber Kommissionspräsident geworden und nicht Ursula Von der Leyen.   

Schäffer: Das war absurd. Es war jedoch auch dumm, einen Politiker der bayrischen Lokalpartei CSU aufzustellen, die nicht einmal in Deutschland flächendeckend gewählt werden kann. Wir bräuchten eine echte Europawahl mit transnationalen Listen.

Wie sollte die EU denn Ihrer Ansicht nach in der Endausbaustufe aussehen?  

Schäffer: Wir brauchen im institutionellen Setup weniger Nationalstaaten. Ich würde ganz konkret den Rat abschaffen. Wir haben mit dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs ein exekutives Konsultationsgremium, das die Leitlinien vorgibt. Das passt auch. Wir brauchen dazu jedoch nicht auch noch ein legislatives Organ, in dem sich die Minister und Ministerinnen in zehn verschiedenen Formationen in Räten treffen, um dann noch Richtlinien zu beschließen. Da kommen Minister in den Rat, beschließen eine Richtlinie, gehen nach Hause, müssen die Richtlinie in nationalem Recht umsetzen und sagen dann, Brüssel sei schuld. Das gehört abgeschafft. Stattdessen bräuchten wir noch ein regionales Organ.

Und zwar?

Schäffer: Es wäre sinnvoll, eine zweite Kammer zu schaffen, die aus Regionen besteht. Ich würde nicht den existierenden konsultativen Ausschuss der Regionen nehmen, sondern auf einem anderen Level mit grenzüberschreitenden Kandidaten ansetzen. Zu den größten Töpfen in der EU zählen weiterhin Kohäsionsfonds. Warum sollen darüber nicht die Regionen entscheiden? Wenn wir regionale Vertreter zusammenbrächten, wäre die EU demokratischer, weil näher an den Menschen. Diese zweite Kammer sollte auch ein Initiativrecht erhalten. Momentan ist man auf die Kommission angewiesen, die meiner Meinung nach verkleinert gehört. 15 Kommissar_innen reichen.

Halten Sie die Idee der Vereinigten Staaten von Europa angesichts der gesellschaftlichen Gemütslage für zu hoch gegriffen, oder sollte genau dies das Ziel sein?

Schäffer: Wenn Europa wettbewerbsfähig sein möchte, sollte es in diese Richtung gehen. Doch das Konzept ist verbrannt. Man bräuchte ein Rebranding, in dem nicht von einer Föderation die Rede ist. Solange wir so schlecht sind, die bestehenden Vorteile zu verkaufen, ist eine Föderation nicht mehrheitsfähig. Ich trete deshalb für einen Zweischritt ein: Wir sollten auf supranationaler Ebene die Außen-, Sicherheits- und Migrationspolitik durch die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips handlungsfähiger zu machen und gleichzeitig mit der Beteiligung von Regionen eine dritte Ebene einziehen, die näher an den lebensnahen Herausforderungen ist.

Christian Ultsch ist Ressortleiter Außenpolitik der Tageszeitung Die Presse


SEBASTIAN SCHÄFFER

Mag. Sebastian Schäffer, MA ist Direktor des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa IDM. Er studierte Politikwissenschaft, Europarecht und Slawistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und belegte den Elitestudiengang Osteuropastudien an der Universität Regensburg. Schäffer war wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungsgruppen deutscher Universitäten mit den Schwerpunkten Europa und internationale Beziehungen.

Die Universität für Weiterbildung Krems ist Forschungskooperationspartner des IDM und über ihren Rektor Friedrich Faulhammer verbunden, der als Präsident des IDM fungiert.

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