Wie geht man im Journalismus mit unhaltbaren Behauptungen um? Zu oft werden sie als gleichwertig neben überprüfbaren Tatsachen präsentiert. Dafür hat sich der Begriff „false balancing“ eingebürgert. Eine bedenkliche Entwicklung.

Von Wolfgang Rössler

Wie Abermillionen andere Menschen auf der ganzen Welt klebte auch der Journalist Michael Nikbaksh am späten Nachmittag des 20. Jänner vor dem Fernseher, um die Amtseinführung des neuen US-Präsidenten zu verfolgen. Er war live dabei, als Donald Trump Massendeportationen ankündigte und bekräftigte, dass er das rohstoffreiche Grönland unter amerikanischer Flagge eingemeinden möchte. Dann wurde ein Auftritt von Elon Musk übertragen, dem offiziell reichsten Mann der Welt, der nun für Trump die US-Verwaltung umkrempeln möchte. Während seiner Rede schlug sich Musk erst mit der rechten Hand aufs Herz, dann streckte er sie zackig nach oben. Nikbaksh, der nebenbei mit einem Freund und Kollegen chattete, war entsetzt. „Musk hat gerade den Hitlergruß gemacht“, tippte er.

Bald darauf kam eine Antwort. So kategorisch könne man das nicht sagen, es sei eine hitlergrußähnliche Geste gewesen. Man müsse den Kontext beachten. Vielleicht fehle ja dem in den USA lebenden, gebürtigen Südafrikaner Musk das tiefere Verständnis für die historische Bedeutung eines zackig emporgereckten Arms. Und müsse man nicht in Betracht ziehen, dass Musk an einer milden Form von Autismus leide? Womöglich habe er bloß seiner Begeisterung mit einer tollpatschigen Geste Ausdruck verleihen wollen.

Der Kollege war mit dieser Einschätzung nicht allein: Die meisten großen Zeitungen und TV-Sender auf der ganzen Welt blieben zurückhaltend, die Aktion sei „missverständlich“ gewesen. Missverständlich? „Wenn ein intelligenter, gebildeter Mensch im 21. Jahrhundert öffentlich die rechte Hand nach oben streckt, dann weiß er, was das ist. Ein Hitlergruß“, sagt Nikbaksh. Und genauso sei das auch journalistisch zu bewerten.

Michael Nikbaksh

„Wenn es aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es eine Ente.“

Michael Nikbaksh

Sagen, was Sache ist

Zugegeben: Niemand außer Musk weiß mit Sicherheit, was der eigensinnige Multimilliardär – der laut eigenen Angaben ein Faible für die Partydroge Ketamin hat – in diesem Augenblick wirklich ausdrücken wollte. War es eine von langer Hand geplante Provokation? Ein spontaner Einfall? Sind ihm die Pferde durchgegangen? Da bleibt allerhand im Unklaren. Aber dass Musk den Hitlergruß nicht kannte, darf ausgeschlossen werden. Für Nikbaksh steht außer Frage: Musk wusste, was er tut. „Wenn es aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es eine Ente“, sagt Nikbaksh. Und es sei die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, zu sagen, was Sache ist.

Warum aber schrecken so viele davor zurück? Vielleicht, meint Nikbaksh, weil Medienleute im Zweifel mit ihrer Einschätzung lieber auf der sicheren Seite bleiben. Weil man sich ungern aus der Deckung wagt, wenn alle anderen zurückhaltend bleiben. „Der Herdentrieb wird zunehmend zu einem Problem im Journalismus“, sagt Nikbaksh.

Der Aufdeckerjournalist war einmal eine Reporterlegende beim Wochenmagazin profil, einige Jahre sogar stellvertretender Chefredakteur. Vor zwei Jahren hat er sich völlig neu aufgestellt und den Investigativpodcast „Die Dunkelkammer“ ins Leben gerufen. Dort nimmt er sich Zeit für lange Gespräche, mitunter auch recht kontroverse Gespräche mit seinen Gästen. Nikbaksh will wissen, was wirklich Sache ist. Er glaubt:

Wer in der Berichterstattung zu heiklen Themen unterschiedliche Wahrheiten einfach ungeprüft nebeneinander stellt, macht es sich zu einfach.

Falsch gewichtet

Erst recht, wenn dann wissenschaftlich fundierte, mehrfach extern überprüfte Erkenntnisse neben pseudoakademisch begründeten Argumenten stehen. Peer review, Quellenangaben, Auftraggeber_in und nicht zuletzt die Art der Publikation machen den Unterschied. Am Beispiel menschengemachter Klimawandel: Eine unlängst publizierte Untersuchung von Forscherinnen und Forschern der Universität Universität hat ergeben, dass in Zukunft noch weitaus schlimmere Hitzewellen drohen als bisher vermutet. Das ist eine vertrauenswürdige Quelle. Wenn hingegen die „Heartland Foundation“ – ein US-Thinktank, der großzügige Spenden von Mineralölkonzernen wie ExxonMobil entgegennimmt – auf seiner Website ein dürres Thesenpapier veröffentlicht, wonach die Kohlenstoffdioxid-Emissionen der Produzent_innen fossiler Energieträger im Hinblick auf die Erderwärmung kaum der Rede wert seien, ist hingegen Misstrauen anzeigt. Wer beide Quellen in einem journalistischen Bericht als gleichwertig präsentiert, tappt in eine Falle, für die sich in den letzten Jahren der Begriff „false balancing“ durchgesetzt hat. Falsche Ausgewogenheit also.

Die Verbindungen der „Heartland Foundation“ zu Mineralölindustrie lassen sich leicht belegen. Ebenso ihre engen Bande zu rechten und rechtsextremen Bewegungen, die den Klimawandel schlicht leugnen. Aber das erfordert zusätzliche Recherche, und dafür fehlen in vielen Redaktionen Ressourcen – vor allem wenn es darum geht, eine Story vor allen anderen zu veröffentlichen. „Es gibt da einen von den sozialen Medien getriebenen Schnelligkeitswahn“, sagt Josef Seethaler vom Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Universität Klagenfurt. „Da fehlen oft Zeit und Recherchemöglichkeiten“.

Josef Seethaler

„Es gibt einen von den sozialen Medien getriebenen Schnelligkeitswahn. Da fehlen oft Zeit und Recherchemöglichkeiten“

Josef Seethaler

Grenzen der Meinungsfreiheit

„Scheinobjektivität“ nennt der auch an der Universität für Weiterbildung Krems lehrende Politikwissenschafter Peter Filzmaier diese Gleichsetzung unterschiedlich seriöser Quellen. Und auch er hält ihn für höchst bedenklich. Nicht nur in Fragen der Wissenschaft, sondern auch in der politischen Debatte. Selbstverständlich sei es die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, unterschiedliche Positionen zu einem Thema abzubilden. Sollten Vermögende stärker besteuert werden? Braucht es eine Reform des föderalistischen Systems? Wie viel Migration verträgt ein Land wie Österreich? Darüber lässt sich trefflich streiten und die unterschiedlichen Meinungen dazu beleben den öffentlichen Diskurs. Die Meinungsfreiheit habe aber Grenzen. Manche davon sind im Strafgesetz ausbuchstabiert, etwa, weil bestimmte Aussagen unter den Tatbestand der Verleumdung fallen. Aber auch nicht jede Aussage, die nicht strafbar sei, dürfe ohne Einordnung übernommen werden. Ein Beispiel? Filzmaier: „Bei einem Wahlkampf in Wien hat ein Spitzenkandidat einmal davon gesprochen, dass Ausländer die Maul- und Klauenseuche haben. Weil sie erst maulen und dann klauen.“ Wer ein solches Zitat als legitime Zuspitzung im Wahlkampf einordne, mache einen groben Fehler. „Das ist objektiv Rassismus’“, sagt Filzmaier. Das auszusprechen gehöre zu den Aufgaben von Journalistinnen und Journalisten. Nicht zuletzt deshalb, weil solche Tabubrüche in aller Regel nicht zufällig geschehen.

Die gezielte Grenzüberschreitung ist Teil des populistischen Werkzeugkoffers, ebenso wie das Schüren von Zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten oder der rhetorische Kniff des Whataboutism. Whataboutism? „Wenn man etwa gröbere Verstöße gegen die Demokratie damit rechtfertigt, dass es schon Schlimmeres gab“, sagt Filzmaier. Bedenkliche Entwicklungen werden nicht geleugnet, sie werden bloß professionell heruntergespielt.

Und dies in den meisten Fällen nicht ohne Grund. Populistische und potenziell demokratiefeindliche Bewegungen kalkulieren mit den Zwängen des journalistischen Alltags. Sie wissen, dass Zeit in vielen Redaktionen ein knappes Gut ist, das Geld für Recherchen knapp und die Sorge um den Arbeitsplatz ein ständiger Begleiter vieler Journalist_innen. Da ist die Verlockung groß, sich auf eine scheinbar sichere Position zurückzuziehen und von einer „umstrittenen Aussage“ zu sprechen – statt die Unwahrheit klar zu benennen. Der Preis dieser Zurückhaltung ist hoch. Denn wenn der Journalismus aufgibt, sich der Wahrheit so gut wir nur irgendwie möglich zu nähern, verliert er auf lange Sicht seine Existenzberechtigung.

Wolfgang Rössler schreibt regelmäßig für die Wiener Zeitung und Datum


MICHAEL NIKBAKSH

Michael Nikbaksh ist Investigativ-Journalist und Host sowie Produzent des Politik-Podcast Podcast DIE DUNKELKAMMER. Davor war er viele Jahre als Reporter für das Nachrichtenmagazin profil tätig.

JOSEF SEETHALER

Dr. Josef Seethaler forscht am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Universität Klagenfurt und der Akademie der Österreichischen Wissenschaften. Er leitet als Senior Scientist die Forschungsgruppe “Media, Politics & Democracy”.

PETER FILZMAIER

Der Politikwissenschafter Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier ist an der Universität für Weiterbildung Krems sowie an der Karl-Franzens-Universität Graz tätig. Daneben ist er geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Strategieanalysen (ISA)

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